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Die Weisheit der Naturwesen: Sterben ist wie Einschlafen

 

 

 

Die uns noch weitgehend unbekannte Wunderwelt der Naturwesen hat uns Sonja Spitteler in ih­rem Buch „Als der Efeu sich verliebte – Vom Zauber der Naturwesen“ nahegebracht. Sie konnte schon als Kind zu diesen Wesen, unseren unsichtbaren Begleitern und Helfern, Kontakt aufneh­men. In einem der Kapitel erklärt ihr eine Elfe, dass es für die Naturwesen kein Sterben oder kei­nen Tod gibt, sondern nur ein Einschlafen – also keinen Grund zur „Panik“: „Wir leben im Mo­ment, im Jetzt, und wenn der Tag da ist, dann wechseln wir bloß den Ort. Wir leben ewig, genauso wie ihr.“

 

 

 

Wenn der Daʼada schlafen geht

 

Beginnen möchte ich mit einem Thema, welches beim Menschen oft Furcht auslöst, bei den Naturwesen aber für einen Neuanfang steht: das Sterben.

Erst wäre ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, überhaupt etwas darüber zu schreiben. Als mich aber ein kleines Mädchen fragte, ob Naturgeister denn auch sterben können, wurde ich nachdenklich ...

Nach der Frage des Mädchens stellte ich eine Bitte an die Naturgeister, ob denn einer von ihnen bereit sei, diese Sache näher zu erläutern.

Kurz darauf flatterte mir eine kleine Elfe auf das Knie. Wie die meisten Luftgeister war sie von zartem Wuchs und heller Haut. Ein paar prächtige, blassblaue Flügel verliehen ihr eine imposante Ausstrahlung. Ihre fast weißen Haare wirbelten ständig um ihr feines Gesicht, und daraus funkelten mich zwei wolkig weiße Augen an. Die Elfe stellte sich als Lil-Alin vor und würde sehr gerne davon berichten, wie sie das erste „Dahinscheiden“ eines Bekannten miterlebt hatte ...

Ich erinnere mich noch gut daran, als Feilas einschlief. Für eine lange, lange Zeit war er unser ‚erster Vater‘, unser Daʼada gewesen. Natürlich haben wir auch eine ‚erste Mutter‘, die Daʼadai. Sie sind unsere Anführer, unsere ersten Sprecher, und sie sorgen dafür, dass al­les ungehindert fließen kann. Wenn jemand von uns Schwierigkeiten hat, so sucht man die Daʼadai oder den Daʼada auf. Sie finden immer eine Lösung zur Zufriedenheit aller.

Aber auch sonst differenzieren wir uns ein wenig von anderen Elfenvölkern. Wir selbst nen­nen uns Ninajei, was so viel wie ‚das Glück der Kinder‘ oder ‚die, die gebären‘ heißt. Ja, wir können, so wie ihr, Kinder kriegen und eine Familie gründen. Ähnlich wie bei euch Menschen und bei den Tieren wachsen wir im Leib unserer Mütter heran. Mit den anderen Unterschieden zu diesem Vorgang möchte ich mich hier aber nicht aufhalten.

Wir Nanajei gehören dem Element Luft an, denn wir sind die ‚Luft- und Atemhelfer‘ der Tiere, vor allem der Vögel und fliegenden Insekten. So wie die Pflanzengeister für ihre Pflanzen und Bäume sorgen, so sind wir für diese Tiere da. Das Wesen der Tiere ist anders als jenes einer Blume oder eines Baumes und so auch wir. Während unsere Luftgeschwister den weiten, offenen Himmel bevorzugen, leben wir meist in Bodennähe. Am liebsten aber auf hohen, einsam stehenden Bäumen, wo der Wind ungehindert durch das Geäst wirbeln kann. Wir steigen mit den Vögeln in die Lüfte und lassen uns gemeinsam mit ihnen wieder auf die Erde fallen.

Nun, ich wollte euch aber an etwas anderem teilhaben lassen. Wir haben kein wirkliches Wort für das Sterben, wir nennen es einfach das Einschlafen. Für uns ist es ein Geschenk, wenn man eines fernen Tages seine Hülle ablegen kann, um dann weiterzuziehen – zurück in den endlosen Äther, aus dem wir alle sind. Schließlich lebt unsere Seele ja ewig, und das Einschlafen ist lediglich ein Hinübergleiten auf die andere ‚Seite‘. Als würdet ihr einen Vor­hang zur Seite schieben und dahinter entdecken, dass es noch weitere Räume gibt. Meiner Meinung nach geht ihr Menschen viel zu hart und abrupt mit dem Sterben um. Ihr seht es oft als etwas Endgültiges, etwas Hoffnungsloses. Dabei ist es nur der Anfang eines weiteren Abenteuers.

Dennoch kann ich verstehen, dass es für euch nicht immer einfach ist. Wer mit dem Glau­ben aufwächst, dass der Tod das Ende der Existenz ist, der hat auch davor Angst. Es ist schade, denn der Tod ist ein Teil des Lebens. Wenn eine Sache vergeht, kann eine neue ge­deihen, und so setzt es sich immerzu fort – ringförmig, wie eine Spirale. Wahrscheinlich bin ich nicht die Richtige, um euch die Furcht vor dem Sterben zu nehmen, denn ich kann mir nicht vorstellen, wie dieses Gefühl sein muss. Aber ich kann euch sagen, wie wir damit um­gehen.

Die Lebensdauer eines Ninajei kann viele, viele tausend Zyklen umspannen. Jahre zählen wir keine, denn jeder Tag ist für uns gleich kostbar, und die Einteilung in Zeitabschnitte mindert diese Augenblicke nur, engt sie ein.

Es wird gesagt, dass irgendwann einmal für alle Ninajei der Tag kommt, an dem sie zu müde sind, um weiterzumachen. Wenn die Aufgabe und das Leben beginnen, den Geist zu brechen und das Fliegen einem keine Freude mehr bereitet, dann ist es so weit, sich schlafen zu legen. Eines Tages wird dies auch bei mir der Fall sein, aber noch bin ich hellwach. Die­ses Gefühl, so wird gesagt, kann von einem Moment auf den anderen kommen oder aber langsam immer stärker werden.

An unseren damaligen Daʼada Feilas erinnere ich mich noch so gut, weil es das erste Einschlafen war, das ich miterlebt habe. Bei Feilas kam es wie ein Wirbelsturm.

Es ist an einem strahlenden Frühlingsmorgen gewesen, als der Daʼada von seinem Flug mit dem Bussard zurückgekommen ist und sich auf einem Ast niedergelassen hatte. Die Sonne setzte derweilen unbehindert ihren Weg fort, während Feilas stumm dort gesessen und das Leben um sich herum beobachtet hatte. Wir Ninajeis wohnen alle zusammen, in einem großen Dorf, meistens auf einem Baum. Ich bin damals die Jüngs­te von uns allen gewesen, denn auch wenn wir Kinder gebären können, so geschieht dies sehr selten. So aber rief der Daʼada mich an jenem Tage zu sich und hieß mich, mich zu ihm zu setzen. Und dann hatte er begonnen, mir von seinem Leben zu erzählen. Er berichtete von seinen Abenteuern, sei­nen Reisen mit den großen Vögeln, den kleinen Vögelchen und den winzigen Insekten. Er sprach von seinen Erfahrungen, seiner Liebe zum Leben und über das Schlafen. Er ist es gewesen, der mich gelehrt hatte, was die Vergänglichkeit ist. Er war ein wundervolles We­sen, und ich trage ihn noch immer in meinem Herzen.

Ich hatte mit großen Ohren seinen Worten gelauscht, sie in mir aufgesogen. Das Leben ist ein einziger Zyklus, Leben und Tod reichen sich unablässig die Hände. Selbstverständlich war mir dies schon lange klar, bevor Feilas es mir erklärt hatte. Aber, wie bei so vielen Din­gen, ist es ein wertvolles Geschenk, wenn ein anderes Wesen seine Ansichten mit dir teilt.

Als es Abend wurde, hatten sich alle Ninajei um Feilas versammelt. Bei jedem Einzelnen hatte er sich für das schöne Sein bedankt. Dann hatte er sich schlafen gelegt. Er streifte sei­ne Hülle ab und zog hoch in den Äther. Ein Teil von ihm aber blieb auf ewig bei uns, leben­dig in unseren Erinnerungen.

Für einige Tage haben wir jeden Morgen und jeden Abend ein Lied für Feilas gesungen, um ihm unsere Dankbarkeit und Liebe zu zeigen. Er war nun nicht mehr der Daʼada , sondern würde uns als Feilas in Gedanken bleiben.

Und als wir das Lied zum letzten Mal angestimmt hatten, trat der neue Daʼada hervor. So konnte sich der alte Kreis schließen und ein neuer begann.

Trauer über Feilas Verlust verspürten wir keine. Natürlich fehlte er uns allen sehr, doch es ist der Lauf der Dinge, dass alles einmal vergeht. Schließlich dreht Feilas nun seine Runden im endlosen Äther, und wenn es ihm beliebt, kann er in ferner oder naher Zukunft immer wieder auf Mutter Erde kommen. Vielleicht aber zieht es ihn erst an andere, ihm noch unbe­kannte Orte.

Über alle diese Dinge machen sich die Ninajei keine Sorgen. Wir leben im Moment, im Jetzt, und wenn der Tag da ist, dann wechseln wir bloß den Ort. Wir leben ewig, genauso wie ihr, das steht für uns nie außer Frage. Nur unsere Ansichten unterscheiden sich biswei­len von den euren. Seelen sind bereits unsterblich, wieso also sollten wir nach Unsterblich­keit hier auf Mutter Erde trachten?

Es ist ein wenig so, wie wenn ihr ein gutes Buch lest. Auch dieses geht irgendwann zu Ende, und kurz darauf beginnt ihr wieder mit einem neuen Buch – ganz gleich, wie sehr euch das alte gefallen hat.

So sehen die Ninajei das Schlafen, so sehen die Naturwesen das Sterben, und so sahen und sehen viele alte Menschenvölker den Tod. Ein Kreis schließt sich, und dann kann sich ein neuer formen ...“

 

(mit freundlicher Genehmigung des Reichel-Verlags, 91365 Weilersbach)