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Neuer Forschungszweig: Verzeihen als Wunderheilmittel

 

 

In Atlanta fand der erste Kongress statt, der das Verzeihen thematisierte. Was das Vergeben alles be­wirken kann, und wie gesund es ist, seinen Mitmenschen Kränkungen zu vergeben, wurde einge­hend diskutiert. US-Amerikaner haben offenbar ein neues Allheilmittel entdeckt: Vergeben macht gesund, erneuert kaputte Ehen und beugt Verbrechen vor.

Verzeihen ist in den USA ein neuer Forschungszweig geworden, berichtet die Ärzte-Zeitung. Hinter dem Kongress steht die “Kampagne für Vergebensforschung“, zu deren Vorsitzenden die Friedens­nobelpreisträger Desmond Tutu1 und Jimmy Carter2 gehören. Stifter haben der Kampagne sieben Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt, um wissenschaftliche Projekte rund ums Verzei­hen zu finanzieren.

46 wissenschaftliche Studien zur Kraft der Vergebung, darunter auch viele medizinische, hat die Kampagne in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse auf der Konferenz präsentiert wurden. Um das so gesunde Verzeihen auch praktisch unter die Leute zu bringen, findet gleichzeitig eine zweite Konfe­renz statt: „Helping People Forgive“. 400 bis 600 Klinikärzte, Psychiater, Psychologen, Sozialarbei­ter, Krankenschwestern, Pfarrer und andere kommen hier zusammen und diskutieren, wie man Menschen helfen kann, zu vergeben und zu vergessen.

Dass Ärger und ungelöste Probleme krank machen können, ist bekannt. Und jeder kennt das Ge­fühl der Befreiung und Erleichterung nach einer Versöhnung. Wenn einem der sprichwörtliche Stein vom Herzen gefallen ist, geht es einem wirklich besser. Genau das haben die neuen Studien zum Verzeihen gezeigt.

 

 

Verzeihen kann man lernen

 

So soll Verzeihen den Blutdruck senken: Jedenfalls hatten in einer Studie von Loren Toussaint mit fast 200 Probanden aus Michigan3 diejenigen, die von ihrer Persönlichkeit mehr zum Verzeihen ten­dieren, nicht nur einen niedrigeren diastolischen Blutdruck als weniger Verzeihbereite, bei ihnen wurden auch niedrigere Kortisol-Werte gemessen.

Eine andere Studie des Psychiaters der Duke University in Durham in North Carolina hat sich mit Rückenschmerzen und Depressionen befasst: Dr. James Carson hat gezeigt, dass Verzeihen nicht nur chronische Rückenschmerzen und Depression lindern kann, sondern auch vor einer Chro­nifizierung von Schmerzen schützt.

44 italienische Ehefrauen, alle stark übergewichtig und typische Frustesser, nahmen ab, nachdem sie gelernt hatten, ihren Männern all die Kränkungen zu verzeihen, die diese ihnen angetan hatten. Vergeben hat außerdem einen günstigen Einfluss in der Rehabilitation von Patienten mit Wirbelsäu­lenproblemen.

Aber: Verzeihen ist nicht, wie Friedrich Nietzsche4 geschrieben hat, „ein Zeichen von Schwäche“, sondern, so die US-Kampagne: VERZEIHEN IST SCHWERARBEIT. Offenbar kann das kaum je­mand so von selbst. Deshalb haben die Verzeihensexperten Kurse entwickelt, in denen das Vergeben gelernt werden kann. Dass das funktioniert, ist in einer weiteren Studie nachgewiesen worden.

Der Psychologe Frederic Luskin von der Stanford University in Kalifornien hat 259 Bürger aus dem Raum San Francisco sechsmal zu 90minütigen Sitzungen eingeladen, in denen Verzeihen geübt wurde. Die Teilnehmer fühlten sich alle von irgend jemandem gekränkt oder beleidigt, aber sie hat­ten keine körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt.

In dem Kurs diskutierten sie über Schmerzen, die ihnen zugefügt worden waren, hörten sie Vor­träge, führten sie innere Gespräche mit den Übeltätern. Den meisten Probanden ging es nachher bes­ser: 70 Prozent gaben an, weniger Schmerzen als vorher zu empfinden. 27 Prozent hatten auch we­niger physische Symptome wie Rücken- oder Kopfschmerzen, Schwindel, Schlaflosigkeit. 15 Pro­zent gaben an, nicht mehr so emotional auf Stress zu reagieren. Und alle waren bereit, auch in Zu­kunft zu verzeihen, statt Ärger in sich hineinzufressen.

 

 

Vier Stufen des Verzeihens

 

Verzeihen ist kein einfacher Prozess. Der amerikanische Verzeihensexperte Dr. Robert D. Engright rät, systematisch vorzugehen, und zwar in vier Stufen:

  • Zunächst sollte man sich klar werden über Ärger und Übeltäter.

  • Zweiter Schritt ist, sich dazu durchzuringen, wirklich verzeihen zu wollen.

  • Dann ist es wichtig, aktiv daran zu arbeiten, zu versuchen, den anderen zu verstehen, aber auch den eigenen Schmerz anzuerkennen.

  • Schließlich geht es nur noch darum, die Befreiung aus einem emotionalen Gefängnis zu genießen.

     

 

Merksätze:

 

  • Nicht zu verzeihen ist das beste Rezept um zu leiden.

  • Verzeihen bedeutet, die Wunden nicht länger aufzukratzen.

  • Verzeihen heißt, das Loch im Herzen zu heilen, welches unversöhnliche Gedanken gerissen haben.

  • Der Verstand, der nicht verzeihen will, verheimlicht uns die Tatsache, dass wir uns selbst einsperren, wenn wir an Wut und Hass festhalten.

 

Fast jeder Mensch hat irgendwo in seinem tiefsten Innern auch ein paar „unerledigte Geschäfte“. In nahezu jedem von uns existiert eine schwarze Liste, in die man Ereignisse eingetragen hat, die man nicht verzeihen kann. Viele rufen sich immer und immer wieder in Erinnerung, was sie dem anderen nicht verzeihen können. Sie quälen sich täglich damit, darüber zu grübeln: „Warum nur!? Wie kann er mir so etwas antun!? Das kann ich ihm nicht vergeben. So darf er nicht mit mir umgehen.“

 

 

Was passiert, wenn wir nicht verzeihen?

 

Man beschäftigt sich dauernd in Gedanken damit, dem anderen Schuld zuzuweisen, ihm sein Ver­halten nachzutragen. Da jeder Gedanke sich auf den Körper und die Gefühle auswirkt, bringen sol­che nachtragenden Gedanken einen aus dem inneren Gleichgewicht und können sogar Krankheiten verursachen.

Unser Körper kann beispielsweise mit Erschöpfung, Anspannung, Bluthochdruck, Kopf- oder Ma­genschmerzen, Schlafstörungen, mit einem Absinken der Abwehrkräfte reagieren. Man fühlt Hass, Rache, Wut, Verbitterung, Verletzung, Enttäuschung, Ablehnung. Möglicherweise verspürt man den Wunsch, es dem anderen heimzuzahlen.

 

 

Was hindert einen daran, dem anderen zu verzeihen?

 

Wir selbst. Wir selbst sagen uns: „Sein Verhalten hat mich so stark getroffen. Das kann ich ihm nicht verzeihen!“ Es ist eine Art Bestrafung, die man damit bewirken will. Doch wenn wir genauer hinschauen, trifft einen die Bestrafung selbst: Keine Ruhe, schlaflose Nächte und innere Anspan­nung sind die Folge. Der andere, den wir eigentlich bestrafen möchten, weiß meist gar nichts davon. Selbst wenn man ihm aus dem Weg geht und ihm dadurch das Verletztsein deutlich zeigt, wird er meist lange nicht so be- und getroffen sein wie wir selbst. Man beraubt sich damit kostbarer Ener­gie, die man für Schöneres einsetzen könnte. Auch der Stolz und der Glaube, das Gesicht zu verlieren, steht einem im Wege. Die Angst, der andere könnte sich ermutigt fühlen, sein Verhalten zu wiederholen, ist ein weiteres Motiv, welches vom Verzeihen abhält.

 

 

Was kann man tun, um das Verzeihen zu erleichtern?

 

  1. Rufen Sie sich das Ereignis, das Sie bisher nicht verzeihen konnten, nochmals in Erinne-­ rung. Stellen Sie sich einmal die Frage: „Was habe ich dazu beigetragen?“

  2. Versetzen Sie sich einmal in den anderen hinein. „Was hat aus seiner Perspektive dazu geführt, dass er sich so verhalten hat?“

  3. Erinnern Sie sich daran, dass Verzeihen nichts mit Schwäche zu tun hat. Im Gegenteil, verzeihen ist ein Ausdruck von Stärke. Sie tun es in erster Linie für sich und Ihre Gesund­ heit. Verzeihen braucht auch kein Freibrief für den anderen zu sein, dass er sein Verhalten wieder­holt.

  4. Sie brauchen das Verhalten des anderen nicht gutzuheißen. Es ist in Ordnung zu sagen: „Mir gefällt es nicht. Es hat mir wehgetan. Ich akzeptiere, dass er sich mir gegenüber so verhalten hat.“

  5. Überprüfen Sie noch einmal, ob aus der heutigen Sicht dieses eine Verhalten alle anderen positiven Erfahrungen, die Sie mit diesem Menschen gemacht haben, in Frage stellen kann.

  6. Wenn Sie möchten, dann sprechen Sie diesem Menschen gegenüber, der Sie gekränkt hat, nochmals Ihre Gefühle aus oder schreiben ihm einen Brief. Vielleicht genügt es Ihnen sogar, diesen Brief nur für sich zu schreiben – ohne ihn abzuschicken.

  7. Nehmen Sie ein Bild dieses Menschen und sagen Sie diesem Bild: „Ich bin bereit, Dir zu verzeihen“ – auch wenn Sie zunächst innerlich heftigen Widerstand verspüren. Wenn Sie diese Worte immer wieder wiederholen, werden Sie mit der Zeit das Gefühl der Vergebung spüren.

 

Gehen Sie diese kleinen Schritte. Es lohnt sich. Sie können einen inneren Frieden finden. Was hilft es ihnen, stolz und stark zu sein und recht zu behalten, wenn Ihr Körper und Ihre Seele leiden? Der wichtigste Grund sich mit dem Verzeihen auseinanderzusetzen, ist aber folgender: „Wer Vergebung von GOTT sucht, muss auch seinen Mitmenschen ihre Fehler rückhaltlos verzeihen, sonst empfängt er keine Vergebung.“


Quelle: Livenet.ch

 

1 Bischof der anglikanischen Kirche, Südafrika

2 ehemaliger Präsident der USA

3 Bundesstaat der USA

4 deutscher Philosoph