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Dr. M. Scott Peck, ein amerikanischer Psychotherapeut (gest. 2005), hat in seinem Buch „Der wunderbare Weg – Eine neue spirituelle Psychologie“ einen Weg aufgezeichnet, der sich deutlich von dem der etablierten Psychologie abhebt. Einen kleinen Auszug aus seinem hilfreichen – aber auch anspruchsvollen – Buch bringen wir nachstehend. Er hat dieses Kapitel „Probleme und Schmerz“ genannt. Es beschreibt mit anderen, mit seinen Worten das Prinzip der „Inneren Ar­beit“, auch wenn er eigene Ausdrücke dafür gebraucht. Aber lesen Sie selbst:

 

 

 

 

Problemen ausweichen: Ein Krankmacher erster Güte

 

 

Das Leben ist schwierig.

Das ist eine große, ja, eine der größten Wahrheiten. Es ist eine große Wahrheit, weil wir sie, wenn wir sie wirklich erkennen, transzendieren. Sobald wir ernsthaft wissen, dass das Leben schwierig ist – es wirklich verstehen und akzeptieren –, ist es jedoch nicht länger schwierig. Sobald nämlich einmal die Tatsache akzeptiert ist, dass das Leben schwierig ist, ist dies gar nicht mehr so wichtig.

Die meisten Menschen sehen diese Wahrheit, dass das Leben schwierig ist, nicht klar. Statt dessen kla­gen sie mehr oder weniger unablässig, lauthals oder unterschwellig, über das riesige Ausmaß ihrer Pro­bleme, ihrer Bürden und Schwierigkeiten, als sei das Leben im Allgemeinen leicht, als solle es leicht sein. Laut oder leise geben sie ihrer Überzeugung Ausdruck, ihre Schwierigkeiten seien eine einzigarti­ge Heimsuchung, die nicht sein dürfe und die auf irgendeine Weise speziell ihnen oder ihrer Familie, ihrem Stamm, ihrer Klasse, ihrer Nation, ihrer Rasse oder sogar ihrer Spezies zugefügt wurde, anderen dagegen nicht. Ich kenne mich mit diesen Klagen aus, weil auch ich meinen Teil dazu beigetragen habe.

Das Leben ist eine Serie von Problemen. Wollen wir darüber klagen oder sie lösen? Wollen wir unse­ren Kindern beibringen, sie zu lösen?

Disziplin gehört zu den Grundwerkzeugen, die wir brauchen, um die Probleme des Lebens zu lösen. Ohne Disziplin können wir nichts ausrichten. Mit nur etwas Disziplin können wir nur einige Probleme lösen. Mit totaler Disziplin können wir alle Probleme lösen.

Was das Leben schwierig macht, ist, dass der Prozess, sich Problemen zu stellen und sie zu lösen, schmerzhaft ist. Probleme erwecken in uns, je nach ihrer Natur, Frustration oder Kummer oder Trauer oder Schuldgefühle oder Reue oder Zorn oder Angst oder Furcht oder Qual oder Verzweiflung. Diese Gefühle sind unangenehm, sehr unangenehm, und tun oft so weh wie physischer Schmerz, manchmal wie schlimmster physischer Schmerz. Eben wegen des Schmerzes, den Ereignisse oder Konflikte in uns auslösen, nennen wir sie Probleme. Und da das Leben eine endlose Reihe von Problemen stellt, ist das Leben immer schwierig und ebenso voller Schmerzen wie voller Freuden.

Aus diesem gesamten Prozess jedoch, Problemen zu begegnen und sie zu lösen, gewinnt das Leben sei­nen Sinn. Probleme sind die Scheidewand, die zwischen Erfolg und Misserfolg unterscheidet. Proble­me rufen unseren Mut und unsere Weisheit auf den Plan; tatsächlich schaffen sie unseren Mut und unse­re Weisheit. Nur durch Probleme wachsen wir.1) Wenn wir das Wachstum des menschlichen Geistes för­dern wollen, so fordern wir die menschliche Fähigkeit zum Problemlösen heraus und fördern sie, ge­nauso, wie wir unseren Kindern in der Schule bewusst Probleme zu lösen geben. Durch den Schmerz, Pro­blemen zu begegnen und sie zu lösen, lernen wir. „Die Dinge, die wehtun, lehren uns et­was“, sagte Ben­jamin Franklin. Aus diesem Grunde lernen weise Menschen, Probleme nicht zu fürch­ten, sondern will­kommen zu heißen, gerade den mit Problemen verbundenen Schmerz zu begrüßen.

Die meisten von uns sind nicht so weise. Da wir den damit verbundenen Schmerz fürchten, versu­chen wir fast alle in größerem oder geringerem Maße, Problemen auszuweichen. Wir zaudern und hof­fen, sie würden von allein vergehen. Wir ignorieren sie, vergessen sie, tun so, als existierten sie nicht. Wir neh­men sogar Drogen, damit wir sie besser ignorieren können, damit wir uns gegen den Schmerz abstump­fen und so die Probleme vergessen können, die den Schmerz verursachen. Wir versuchen, Pro­bleme zu umgehen, statt sie rundheraus in Angriff zu nehmen. Wir versuchen, aus ihnen herauszukom­men, statt sie zu durchleiden.

Diese Neigung, Problemen und den ihnen innewohnenden gefühlsmäßigen Leiden2) auszuwei­chen, ist die Hauptgrundlage aller menschlichen seelischen Krankheiten. Da die meisten von uns in größerem oder geringerem Maße diese Neigung haben, sind die meisten von uns in größerem oder geringerem Maße seelisch krank. Einige von uns machen außerordentliche Umwege, um Proble­men und dem damit ver­bundenen Leid auszuweichen, sie entfernen sich weit von dem, was eindeutig gut und vernünftig ist, nur deshalb, um einen leichten Ausweg zu finden. Sie bauen sich die raffiniertes­ten Phantasien auf, um dar­in zu leben, manchmal unter völligem Ausschluss der Realität. Die Neurose3) ist immer ein Ersatz für legitimes Leiden, schrieb C. G. Jung einmal.

Doch der Ersatz selbst wird am Ende schmerzhafter als das legitime Leid, das er vermeiden sollte. Die Neurose selbst wird zum größten Problem. Viele versuchen dann, auch diesem Schmerz und diesem Problem wieder auszuweichen, bauen Schicht um Schicht die Neurose auf. Einige besitzen jedoch glücklicherweise den Mut, sich ihren Neurosen zu stellen, und fangen – gewöhnlich mit Hilfe der Psy­cho­therapie – an zu lernen, wie man echtes Leiden erlebt. In jedem Falle weichen wir, wenn wir das echte Leiden vermeiden, das aus dem Umgang mit Problemen folgt, auch dem Wachstum aus, das Pro­bleme von uns fordern. Aus diesem Grunde hören wir bei chronischer seelischer Krankheit auf zu wach­sen, wir bleiben stecken. Aber ohne Heilung beginnt der menschliche Geist zu schrumpfen.

Darum wollen wir uns und unsere Kinder mit den Mitteln versehen, mit denen man spirituelles Wachs­tum erreicht. Damit meine ich, wir selbst und unsere Kinder sollten lernen, dass Leiden not­wendig und wertvoll ist, dass man sich Problemen direkt stellen und den damit verbundenen Schmerz durch­leben muss. lch habe gesagt, Disziplin sei eines der Grundwerkzeuge, die wir brauchen, um die Proble­me des Lebens zu lösen. Es wird sich zeigen, dass diese Werkzeuge Techniken des Lei­dens sind, Mittel, durch die wir den Schmerz von Problemen so erleben, dass wir sie durcharbeiten und erfolgreich lösen können und dabei lernen und wachsen. Wenn wir uns selbst und unseren Kindern Dis­ziplin beibringen, dann zeigen wir ihnen und uns, wie man leidet, und auch, wie man wächst.

Was nun sind diese Werkzeuge, diese Techniken des Leidens, diese Mittel, den Schmerz von Proble­men konstruktiv zu erleben, die ich Disziplin nenne? Es sind vier: Aufschub der Belohnungen4), Akzep­tieren von Verantwortung5), Hingabe an die Wahrheit6) und Ausgewogenheit. Es liegt auf der Hand, dass dies kei­ne komplizierten Werkzeuge sind, deren Anwendung ausgedehnte Übung erfordert. Im Gegen­teil, es sind einfache Werkzeuge, und fast alle Kinder sind im Alter von zehn Jahren zu ihrem Gebrauch fähig. Dennoch vergessen selbst Präsidenten und Könige oft, sie anzuwenden – zu ihrem eigenen Un­glück. Das Problem liegt nicht in der Vielschichtigkeit dieser Werkzeuge, sondern in dem Willen7), sie zu be­nutzen. Denn es sind Werkzeuge, mit denen man sich dem Schmerz stellt, statt ihm auszu­weichen, und wenn man echtes Leiden vermeiden will, dann wird man auch den Gebrauch dieser Werk­zeuge ver­meiden. Wenn wir daher jedes dieser Werkzeuge analysiert haben, werden wir im nächsten Teil den Wil­len untersuchen, sie zu gebrauchen; dieser Wille ist die Liebe.

 

 

M. Scott Peck „Der wunderbare Weg“, Goldmann-Verlag

 

 

 

1) Wenn wir versuchen, uns oder unseren Kindern durch alle möglichen „Manöver“ Schwierigkeiten zu ersparen, verhindern wir geistiges Wachstum und seelische Reifung – und machen uns schuldig.

2) Es müssen ja nicht immer gleich Leiden sein, oft genug schrecken wir auch schon vor Unannehmlichkeiten, Widrigkeiten und Beschwernissen zurück

3) psychische Störung

4) gemeint ist: nicht das Leichteste zuerst, und das Schwierigere „auf die lange Bank schieben“

5) Ich selbst bin derjenige, der etwas ändern muß

6) das entspricht einer ehrlichen Selbsterkenntnis

7) Wille = unsere Entschiedenheit