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Gott stellt die Weichen, wenn wir es zulassen

 

 

Auf den sonst üblichen Vorspann wird bei diesem Bericht verzichtet; er spricht für sich. So, wie es da steht, ist es gewesen! Lediglich die Namensnennung wurde aus sicher verständlichen Gründen auf die Anfangsbuchstaben beschränkt.

 

 

6. Januar 2019

 

Liebe A.,

du hast mich schon vor einiger Zeit gefragt, ob ich nicht aufschreiben möchte, was mir geschehen ist. Heute nehme ich mir die Zeit dazu, denn die Erfahrung, die ich mit der Gnade und Liebe Gottes erlebt, ja durchlebt habe, ist in erster Linie zum Weitergeben da.

Immer wieder, in der Zeit meiner Genesung, tönte der Satz in mir: „Was Ich an einem tue, will Ich auch an anderen tun.“ Und wenn es, wie in meinem Fall, nicht nur um eine sentimentale Herz-Schmerz-Geschichte, sondern um ein Geschehen geht, das von Anfang bis Ende die Führung des Vaters aufweist, so mögen davon die Herzen berührt werden, die es zulassen, dass Jesus Christus sie berührt. Denn um Ihn allein geht es. Ich selbst spiele nur eine kleine Rolle dabei; so wie uns zwar ein Bild, ein geschnitztes oder modelliertes Kunstwerk anspricht, doch unsere Bewunderung dabei nur dem Meister gebührt, der es gefertigt hat.

Es begann vor etwa zwei Jahren, dass ich mich durch Veränderungen in meinem Umfeld und damit verbundene, immer wiederkehrende, mich bedrängende Gedanken, in eine Situation hineinmanö­vrierte, die mir absolut ausweglos erschien.

Einer jungen Frau mit ihren beiden kleinen Kindern und ihrem Mann hatte ich in dem Haus, das ich gemietet hatte, und in dessen Dachgeschoss ich selbst wohnte, die große, schönste Wohnung im Erdgeschoss samt Garten untervermietet. Unter den vielen Bewerbern um diese Wohnung, schien sie mir, hauptsächlich wegen der Kinder, am ehesten dafür infrage zu kommen. Denn Wohnung und Garten sowie das ganze Umfeld waren ein kleines Paradies – für jeden, der dort wohnen durfte.

Doch nach einiger Zeit war die junge Frau nicht mehr zufrieden damit, dass sie nicht das ganze Haus allein bewohnte und überzeugte die Hausbesitzerin davon, dass es doch viel besser wäre für sie, wenn diese das ganze Haus ihr vermieten würde. Der Plan gelang ihr, wenn auch nur teilweise. Ich bekam meine Kündigung für beide Wohnungen und die junge Frau ihren Mietvertrag.

In dem Haus hatte ich vierzehn Jahre mit meinen Kindern gewohnt, gearbeitet, mehrere Jahre lang fanden unsere Gebetskreise dort statt, und nun war mir, als wäre mir der Boden unter den Füssen weggezogen worden. Doch am meisten quälten mich meine negativen Gedanken und Gefühle der Frau und der Hausbesitzerin gegenüber. Voller Groll war ich, so hintergangen worden zu sein.

Ungerecht, undankbar und intrigant schien mir das Vorgehen der beiden.

Ich wusste nicht, wie mein Leben weitergehen sollte. Wie sollte ich mit meiner kleinen Rente eine bezahlbare Bleibe finden? Es ging ja schon auf Herbst und Winter zu. Auf den Winter ging auch mein Leben zu. Groll, Vorwürfe, Existenzsorgen, eine perspektivlose Zukunft – all das begann, sich auf Seele und Körper auszuwirken.

Ich war in einer Depression und wurde auch körperlich immer schwächer. In immer kürzeren Ab­ständen bekam ich heftige Fieberanfälle, deren Ursache kein Arzt fand. Als dann durch das häufige hohe Fieber Herzschmerzen dazu kamen, schickte mich mein Arzt zu einem Spezialisten für Inne­res, einem großartigen Arzt aus Bulgarien, dessen unaussprechlichen Namen ich schon öfters gehört hatte.

Innerhalb einer Woche, mit Ultraschall-, Blut- und CT-Untersuchungen und mit seinem großen Wis­sen, war für ihn klar, dass eine Biopsie im Krankenhaus nötig war. Aus den geplanten drei Tagen dort wurden mehr als fünf Wochen, an deren Ende die Diagnose stand: Nicht mehr operierbar. Un­heilbar krank. Höchstens noch vier Monate zu leben.

Das passte ganz genau zu dem Zeitpunkt, an dem ich aus meiner Wohnung ausziehen sollte. Kämp­fen wollte und konnte ich nicht mehr. Wozu? Ich sah mein Leben in Gottes Hand, und der Zustand, in dem ich mich befand, sah eindeutig nach Lebensende aus. Als ich im Rollstuhl von zwei Sanitä­tern vom Krankenhaus in meine Wohnung gebracht wurde, schien es so, als ob eine verbleibende Lebensspanne von vier Monaten viel zu hoch diagnostiziert war.

Ich lebte schon lange alleine und war immer eher zurückhaltend damit, von mir und wie es mir geht zu erzählen. Nun kam ich mit Hilfe meines Rollators gerade so ins Bad; doch um mir irgend etwas zu essen zuzubereiten, dazu war ich zu schwach. Meine Kraft reichte nur aus, um mir einmal am Tag ein Toastbrot mit Öl mit zum Bett zu nehmen. Ich hatte in zwei Monaten zwanzig Kilo abge­nommen und konnte nicht mehr die Arme heben, um mich zu kämmen.

Ich lag bei weit geöffnetem Fenster in meinem Bett und war dankbar für die wunderbar warmen, sonnigen Herbsttage. Draußen im Garten, unter meinem Fenster, las die junge Frau mit ihren Kin­dern die Nüsse auf, die der Baum reichlich schenkte.

Eine große Ruhe breitete sich in mir aus. Wenn doch mein Leben und Sterben in Gottes Hand lag, dann waren ja auch die beiden Frauen, die mir so viel Kummer bereitet hatten, in diesen Plan einge­bunden. Mit dieser Erkenntnis schwanden alle Vorwürfe und machten einer umfassenden Vergebung Platz. In mir wurde es fühlbar stiller, lichter und sanfter. Ich durfte eine Umkehr erfahren, deren Richtung nicht mehr „Diese beiden sind daran beteiligt, dass ich sterbe“ hieß, sondern vielmehr „Diese beiden haben mit ihrem Verhalten einen Teil zu Gottes Plan beigetragen.“

Ich hatte mich dem, was ich für des Vaters Willen hielt, ganz hingegeben; nicht aus Resignation, sondern in stiller Freude. Dadurch konnte ich für alles und alle in meinem Leben dankbar sein und in Jesu Namen segnen.

Dass es in Gottes Plan lag, mich genau dahinzubringen, und dass Er damit schon meine Umkehr vom Sterben zum Leben eingeleitet hatte, wusste ich nicht. Und auch körperlich merkte ich erst einmal gar keine Veränderung. Keine Besserung. Im Gegenteil, ich hatte Schmerzen. Ich bat meine liebe Freundin und Geistschwester V., die in Ö. und im ganzen Land Gebetskreise betreut, für mich zu beten. Über ihre Besuche in diesen Kreisen und ihren Verteiler beteten ungefähr drei­hundert Geschwister für mich.

Ich glaube, dass der Vater diese gewaltige Kraft, auch zu mir gelenkt hat. Denn nun begann das sichtbare Eingreifen Gottes, des Vaters. Nach und nach schickte Er Seine irdischen Engel, um mir zu helfen. Nie zuvor in meinem Leben hatten sich so viele liebe Menschen um mich gekümmert und mich versorgt.

Nachdem der erste Engel mit Namen S. „zufällig“ bei mir vorbeigekommen war, um nach einigen Jahren „mal wieder zu hören, wie es dir geht, I.“, kam eine Lawine von Hilfe in Bewegung. S. akti­vierte einen anderen Engel mit Namen B., und beide versprachen mir, mich bis zu meinem ja in Kürze zu erwartenden Tode liebevoll zu begleiten und für mich zu sorgen.

Sie gingen auch sofort ans Werk und wechselten sich tageweise ab, mich mit dem gesündesten, feinsten Essen und Trinken zu versorgen, das man sich vorstellen kann: von herrlich schmeckenden Smoothies (die ich bis dahin noch gar nicht kannte) bis zu lebensgeist-erweckenden Süppchen und Wunschmahlzeiten; alles mit einer selbstverständlichen Liebe und Aufopferung ihrer Zeit zubereitet und bei mir vorbeigebracht. Sie organisierten auch einen Pflegedienst, der kam, um mich und die Wohnung sauberzuhalten.

Dann schickte der Vater weitere Engel, die Er aus meiner Familie und meinem Freundeskreis aus­wählte, und die an meiner inneren Wiederherstellung beteiligt wurden. Ein Engel, verkleidet als Hospizbegleiterin, war M. Sie saß stundenlang an meinem Bett und ging mit mir durch alle Abgrün­de und Höhen, die man wohl als sterbender Mensch durchleben darf. Mein ganzes Leben wurde mir etappenweise gezeigt, zum Erkennen und Bearbeiten.

So ähnlich ist es wohl auch, wenn eine Seele ihren Körper ganz verlassen hat und „drüben“ an­kommt. Dort wird sie dabei von himmlischen Engeln liebevoll begleitet, so wie ich hier von mei­nem Engel M. Ein Engel namens G. besuchte mich und brachte mir Bücher über Menschen, die eine todbringende Krankheit überlebt hatten, um mir damit unauffällig und vorsichtig Hoffnung auf ein mögliches Weiterleben zu machen. Dafür hatte er auch gleich Natron und Sauerstoff dabei.

Doch noch immer war kein Gedanke daran in mir, dass ich weiterleben würde. Meine Tochter S. kam fast jedes Wochenende aus N. und litt sehr darunter, mich im Sterben zu sehen. Meine andere Tochter S. kam aus F. und erlebte eine heftige Schmerzattacke mit. Sie riet mir, dies weder als „Attacke“ zu sehen, noch so zu nennen, noch mich dagegen zu wehren, weder gefühlsmä­ßig noch verbal. Ich solle vielmehr versuchen, meine Krankheit als mein Gefährt zu sehen, das mich hinüber bringt, in das geistige Leben und dafür dankbar sein.

Diese Vorstellung habe ich noch in derselben Nacht sehr verinnerlicht und erwachte am Morgen mit dem Gedanken, dass der Krebs nicht nur mein Gefährt, sondern auch mein Gefährte ist, der mich heimbegleitet. Das ließ mich auch Schmerzen leichter ertragen.

In den vielen Tagen und Nächten, in denen ich allein war, sah ich mich still und zufrieden, glück­lich, ja selig auf einem Hügel am Fuße eines hohen Holzkreuzes als Seele sitzen, bekleidet mit ei­nem grob gewebten, leinenen, schlichten Kleidchen. Ich war ohne Wünsche oder Vorstellungen und Meinem liebsten Jesus ganz nah, wartend, dass Er mir die Tür in Sein geistiges Reich öffnen möge. Bereit, dahin zu gehen, wohin Er mich rufen würde.

Dann kam der Tag, vielmehr die Nacht, in der in meinem Inneren die ganz leisen Worte auftauch­ten: „...und wenn Ich dich im irdischen Leben noch bräuchte...?“ Es war nicht einmal eine Frage, nur die Anmerkung einer Möglichkeit. Einer Möglichkeit, mich so oder so entscheiden zu können.

Meine Antwort war: „Vater Jesus, ich werde da sein, wo Du mich hinstellst, wo Du mich brauchst.“

Als ich am Morgen erwachte, setzte ich mich im Bett auf und wusste mit absoluter Gewissheit, dass ich leben würde. Von da an wandelte sich meine Dankbarkeit für all die Hilfe, die mir das Sterben erleichtern sollte, in eine Dankbarkeit, für alles, was mir zum Weiterleben geschenkt wurde. Ich wusste nun mit Sicherheit, dass ich jetzt nicht sterben würde; und wann es wirklich so weit ist, weiß sowieso keiner, genausowenig wie ich.

Dass mein Arzt, der ja meine innere Wandlung nicht sehen konnte, sondern nach meinem Kranken­hausbrief und seiner Erfahrung ging, mich dennoch ins Hospiz überwies, war ein Baustein mehr zu meinem neuen Leben. Ich war innerlich wiedergeboren und durfte dort in der Geborgenheit und Sorglosigkeit eines Kindes in mein neues Leben hineinwachsen.

Nach einem halben Jahr im Hospiz, in dem es mir von Tag zu Tag besser ging (zur völligen Ver­ständnislosigkeit der Pflegekräfte), und während ich auch schon, umgeben von sterbenden Men­schen, manches tun durfte, wozu der Vater mich brauchte, musste mich die Heimleiterin „aufgrund zu großer Lebendigkeit“ entlassen.

Ich hatte die Zeit und Fürsorge im Hospiz nicht zum Sterben, sondern zum Leben bekommen.

Viel Wunderbares ist mir im vergangenen Jahr geschehen. Von kleinen und größeren Geschenken könnte ich erzählen. Vielleicht tue ich dies auch einmal, um damit alle Menschen noch zu würdigen, die mir wieder ins neue Leben geholfen haben.

Meine Geschichte ist keine Dokumentation über die „Wunder der Medizin“, denn davon habe ich bis heute nichts genommen, sondern ein Tatsachenbericht über ein Wunder, das Gott, der Herr, al­lein bewirkt hat.

Mein Leben ist im Äußeren nicht einfacher geworden, doch ich bin alle Tage von solcher Dankbar­keit und Freude erfüllt, dass mir manchmal ist, als ob ich Flügel hätte, und meine Seele singt ihr ewiges Lied: „Vater, ich bin Dein geliebtes Kind.“

 

I.