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Leben und Altern: ein Prozeß von Wachstum und Entwicklung

 

 

 

Vor ein paar Wochen hatte ich mir „das Kreuz verhoben“. Ein befreundeter Physiotherapeut und Heilpraktiker hat das wieder auf die Reihe gebracht. Grundlage seiner Arbeit war bzw. ist eine Methode, die sich Sensomotorics oder Hanna Somatics nennt und von Thomas Hanna entwickelt wurde. Aber darum geht es in dem nachfolgenden Artikel nicht.

Hanna hat ein Buch geschrieben („Beweglich sein – ein Leben lang“), das neben den vorgestell­ten Übungen sehr ausführlich die Hintergründe vieler Krankheiten – Streß bzw. mangelnde Streßbewältigung, was zu anhaltendem Fehlverhalten führt – beleuchtet. Er hat dies so verständ­lich und folgerichtig dargestellt, daß man seinen Überlegungen einfach folgen muß. Sein Credo: Die in späteren Lebensjahren als natürlich, ja beinahe selbstverständlich vorausgesetzte körperli­che Gebrechlichkeit ist nicht unvermeidlich. Sie ist im großen und ganzen nicht nur vermeidbar, son­dern auch rückgängig zu machen!

In diesem Zusammenhang hat er etwas über das Alter geschrieben, das es uns wert war, Auszü­ge davon in diesem kleinen Artikel zusammenzufassen. Eine seiner Aussagen: „Alter hat noch nie jemandem geschadet, noch keinen einzigen Menschen getötet. Nur das, was im Verlauf des Alterns geschieht, kann Menschen schaden und sie töten.“

 

 

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,,Unsere Wünsche sind die Vorgefühle der

Fähigkeiten, die in uns liegen und Vorboten dessen,

was zu leisten wir im Stande sein werden.“

Johann Wolfgang von Goethe

 

 

 

Atrophie 1: Die allmähliche Kapitulation

 

Kein Rat ist trügerischer als dieser: „Jetzt, da sie älter werden, sollten Sie es etwas langsamer ange­hen lassen.“ Dies ist ein Weg, der direkt zu Altersschwäche führt. Ein solcher Ratschlag kann nicht nur einen Kräfteverfall bewirken, sondern tödlich sein.

Es ist Teil des traditionellen Mythos vom Altern, daß mit zunehmendem Alter die körperliche Aktivi­tät abnehmen sollte. Aber Volksweisheiten können grundlegend irren. In diesem Fall helfen sie dabei, eben den Verlust an Wohlbefinden herbeizuführen, den sie zu vermeiden vorgeben.

Die Wahrheit sieht ganz anders aus. Wenn Sie sich einen Leitspruch an die Wand hängen wollen, dann diesen: „Die Funktion erhält die Struktur aufrecht“. Oder allgemeinverständlicher ausgedrückt: „Wer seine Fähigkeiten nicht nutzt, wird sie verlieren.“ Dieser Rat ist – aus anatomischer, physiologi­scher und neurologischer Sicht – richtig. Wenn zum Beispiel unsere Knochen nicht regelmäßig dazu be­nutzt wer­den, beträchtliches Gewicht zu tragen und starken Kräften standzuhalten, werden sie weich. Wenn unse­re Muskeln nicht regelmäßig durch schwierige und Geschicklichkeit erfordernde Tätigkeiten bean­sprucht werden, werden sie geschwächt und weniger reaktionsfähig. Wenn unsere Gehirnzellen nicht systematisch von einer Vielzahl von willkürlichen Aktivitäten in Anspruch genommen werden, verküm­mern sie.

Dieses Nachlassen und Verkümmern unserer Kräfte und Fähigkeiten geschieht allmählich und schlei­chend – nicht aufgrund des Alterns, sondern dadurch, daß wir bestimmte Aktivitäten aufgeben, wenn wir älter werden.

Diejenigen, die glauben, sie sollten es mit zunehmendem Alter langsamer angehen lassen, sind auf dem Holzweg; es sind Menschen, die ihre Lebensfunktionen Stück für Stück aufgeben. Für die meisten Leute ist der Prozeß des Heranwachsens, Reifens und der Anpassung an ein Erwachsenenleben gleichbe­deutend mit einem Abbauprozeß. Bewußt und normalerweise wohlüberlegt werden die funktio­nellen Fä­higkeiten, die während des Heranwachsens erworben wurden, allmählich aufgegeben.

Das Erwachsenwerden ist ein langer Lernprozeß, in dem ein Repertoire von Funktionen aufgebaut wird, das es uns ermöglicht, ein erfülltes Leben zu leben. Aber dazu kommt es normalerweise nicht. Kaum ha­ben wir unser Repertoire an nützlichen Funktionen erworben, hören wir auf, sie zu gebrauchen – ein Musterbeispiel für geplantes Veraltern ...

Üblicherweise gehört zum Erwachsensein, daß man nicht mehr wie ein junger Mensch funktioniert. Aber diese Auffassung von Erwachsensein hat ein unvermeidliches Ergebnis: Sobald wir aufhören, be­stimmte Funktionen zu gebrauchen, verlieren wir sie. Und wir verlieren sie, weil unser Gehirn, das ein höchst reaktionsfähiges Anpassungsorgan ist, sich auf diesen Mangel an Aktivität einstellt. Wenn be­stimmte Handlungen nicht länger Teil unseres Verhaltenspotentials sind, streicht unser Gehirn sie aus. Mit einem Wort, es vergißt ...

 

 

Erwartungen: Die Rolle der geistigen Haltung

 

Wir leben in der Zeit, was bedeutet, daß unser Leben beständigen Veränderungen unterworfen ist: Eine Minute weicht der nächsten; ein Tag dem anderen; ein Jahr geht in das nächste über. Leben und Altern sind identische Ereignisse, weil Menschen in der Zeit leben, und ihr Leben von der gegenwärti­gen in die zukünftige Zeit übergeht. Im Schnittpunkt von Gegenwart und Zukunft liegt die Erwartung.

Erwartung ist das, was uns von der Gegenwart in die Zukunft trägt. Als solches ist sie wie der Bug eines Schiffes, der sich vorsichtig seinen Weg vorwärts bahnt. Die Richtung, in die der Bug zeigt, entscheidet über die Richtung, in der das Schiff fährt. Der Bug dirigiert die Bewegung des Schiffes. Wenn der Bug nach oben zeigt, folgt das Schiff in dieselbe Richtung: aufwärts. Wenn der Bug nach unten zeigt, fährt das Schiff abwärts. Der Lauf unseres Lebens folgt unseren Erwartungen in der glei­chen Weise, wie ein Schiff der Richtung seines Bugs folgt.

Der Ausdruck „self-fulfilling prophecy“ (sich selbst erfüllende Prophezeiung) bedeutet, daß das, was wir erwarten, normalerweise auch tatsächlich geschieht. Erwartung ist nicht nur eine Voraussage der Zu­kunft, sie trägt auch direkt zu ihrer Verwirklichung bei. Diese vorbestimmende Rolle, die die Erwar­tung spielt, ist entscheidend für unser Wohlergehen“ ...

Die Arbeitsthese der Psychoneuroimmunologie 2 ist, daß ein bestimmter Bewußtseinszustand – etwa ei­ne Erwartung – sowohl Veränderungen im Zentralnerven- als auch im Immunsystem hervorrufen kann. Dies ist im wesentlichen die somatische Sichtweise: daß unsere Einstellungen und Überzeugungen be­züglich unseres Körpers und unserer Gesundheit nachhaltig den aktuellen und künftigen Zustand un­seres Körpers und unserer Gesundheit beeinflussen. Wenn wir erwarten, daß unser Körper widerstands­fähig und gesund ist, wird er auch tendenziell so bleiben. Andererseits kann sich die Erwartung auch am Mythos vom Altern orientieren; das heißt am Glauben an einen unvermeidlichen strukturellen Nieder­gang und Funktionsverlust. In diesem Fall werden der Abbau und der Verlust der Funktion schließlich eintreten. Die Prophezeiung erfüllt sich selbst: Was wir erwarten, geschieht auch.

Wenn wir ein bestimmtes Alter erreicht haben und bestimmte Beschwerden in unserem Körper ver­spüren, ist es von entscheidender Bedeutung, in welcher Weise wir sie interpretieren. Wenn wir sie als in diesem Lebensalter zu erwartende Anzeichen einer ernsten Erkrankung und eines Abbaus ansehen, ak­zeptieren wir letztendlich eine vorausgedachte, tödliche Entwicklung und geben ihr nach. Eine Krank­heit in Gedanken vorwegzunehmen, läuft, funktionell gesehen, darauf hinaus, sie zu wollen. Dies setzt gefährliche Reaktionen im Gehirn und Immunsystem frei, gefährlich insofern, als anscheinend schon das Gefühl des „Nachgebens“ im Hinblick auf ein Leiden unsere Selbstheilungskräfte lähmt ...

Wir wissen jetzt genug über Erwartungen und die Art und Weise, in der sie unseren Körper mobilisieren, um zu erkennen, wie entscheidend es ist – vorausgesetzt wir verstehen das Altern als Prozeß – zwischen den zwei entgegengesetzten Bedeutungen von „altern“ zu differenzieren. Wenn wir an unsere kommen­den Lebensjahre als einen fortschreitenden Prozeß des Wachstums und der Entfaltung denken, ist es mehr als wahrscheinlich, daß wir genau das erleben werden. Und es ist genauso wahrscheinlich, daß ei­ne ständige, tagtägliche Erwartung, zu verschleißen und gebrechlich zu werden, sich als sich selbst er­füllende Prophezeiung erweisen wird.

Die Erwartung ist der vorderste und nach vorn weisende Teil eines Glaubenssystems, mit der eigen­tümlichen Eigenschaft, ihre Rechtfertigung in sich selbst zu finden. Als solche bestimmt sie unsere Zu­kunft vor. Sie programmiert jedes Geschehen im voraus, so daß der eine 60 Jahre später lächelt und den Fort­gang seines Lebens bestätigt, indem er sagt: „Das ist genau das, was ich erwartet habe“. Aber der ande­re, der auch sagt: „Genau das habe ich erwartet“, verzieht das Gesicht über seine selbst vorausge­sagte Gebrechlichkeit. Beide haben bekommen, was sie erwartet haben. Sie konnten sich nicht vorstel­len, wie es anders hätte kommen sollen ...

Der Mensch, der weiß, daß sein Wesen wächst, ist ein Mensch, der normalerweise die Kraft und Aus­dauer besitzt, sich gegen die in jedem einzelnen Leben auftretenden Mißerfolge, Belastungen und trau­matischen Ereignisse zu behaupten. So jemand weiß, daß die unvermeidlichen, im Körper auftreten­den Schmerzen und Funktionsstörungen nicht „unvermeidliche Anzeichen von Abbau“ sind, sondern typi­sche Anpassungsvorgänge, denen jeder Körper bei der Selbstregulierung und der eigenen Neu-Anpas­sung auf die Zukunft hin unterliegt.

Ein Mensch, der das Altern als fortschreitenden Wachstumsprozeß begreift, besitzt die Ausdauer und Kraft, Leiden zu bezwingen, Unglück zu überwinden und über die schlimmsten Rückschläge zu trium­phieren. Einer Niederlage nicht nachzugeben, ein Versagen nicht zu akzeptieren und nicht aufzugeben, bedeutet, aus des Lebens reichster Quelle zu trinken: der Weisheit, daß das Leben tief im Inneren unend­lich befreiend und verjüngend ist ...

 

 

Stolz auf das Alter

 

Lassen Sie mich dies so eindringlich wie möglich sagen: Die Tatsache des Alterns zu verachten, heißt nicht nur, das Leben zu verachten, sondern verrät auch eine bemitleidenswerte Unwissenheit über das Wesen des Lebens.

Jugend ist kein Zustand, der erhalten, sondern der überwunden werden sollte. Jugend hat Kraft, aber nicht die Geschicklichkeit, die auf lange Sicht die wirksamste Kraft ist. Jugend zeichnet sich durch Schnelligkeit aus, aber nicht durch Effizienz, die auf lange Sicht die einzige wirksame Möglichkeit dar­stellt, Ziele zu erreichen. Jugend ist rasant, jedoch nicht überlegt, aber Überlegung ist der einzige Weg, richtige Entscheidungen zu treffen. Jugend hat Energie und Intelligenz, aber nicht das nötige Urteilsver­mögen, um den besten Gebrauch von dieser Energie und Intelligenz zu machen. Ein abgewogenes Urteil ist schließlich der einzige Garant für intelligentes Verhalten. Jugend besitzt die Schönheit genetischer Vermächtnisse, aber nicht die Schönheit ihrer Einlösung. Jugend haftet der Glanz des Versprechens an, aber nicht das Strahlen der Erfüllung. Jugend ist eine Zeit des Säens und Hegens, aber nicht der Reife und der Ernte. Jugend ist ein Stadium von Unwissenheit und Unschuld, aber nicht von Wissen und Weisheit. Jugend ist ein Zustand der Leere, der der Erfüllung harrt, ein Zustand des Möglichen, der auf Verwirklichung wartet, ein Zustand des Beginnens, der auf Transzendenz wartet.

Kurz gesagt ist die Jugend ein Stadium, das wir hinter uns bringen müssen, wenn wir größer, tiefer und vollkommener werden wollen. Wenn wir nicht begreifen, daß das Leben und das Altern ein Prozeß von Wachs­tum und Entwicklung ist, werden wir die Grundprinzipien des Lebens nie verstehen. Auch bleibt uns verschlossen, was Jugend eigentlich bedeutet: ein explosives Sehnen danach, sich zu seinen vollen Möglichkeiten zu entwickeln und über sich selbst hinauszuwachsen. Durch den Verlust dieser Sehnsucht vergessen wir die Grundprinzipien des Lebens und fangen an, eine falsche und oberflächliche Vorstel­lung von Jugendlichkeit zu verherrlichen.

Die menschliche Spezies, die ein Gehirn besitzt mit der Gabe eines unbegrenzten Lern- und Anpas­sungsvermögens, ist eine Spezies, die genetisch dazu bestimmt ist, zu altern, indem sie wächst. Kein solches Wachstum zu erwarten heißt mißzuverstehen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein; und außer­dem heißt es, in der von Gott auferlegten Pflicht zu versagen, ein menschlich erfülltes Leben zu leben. Das Gegenteil zu erwarten bedeutet in Wirklichkeit, sich gegen das Leben und sein biologisches Ver­sprechen zu versündigen ...

Zu behaupten, daß das Altern ein Abenteuer ist, bedeutet gleichermaßen, daß das Leben ein Abenteuer ist. Tatsächlich stellt jedes einzelne Leben das größte aller Abenteuer dar. Zusammen sind sie Teil eines größeren Abenteuers, das Leben einer Gemeinschaft, die sich auf einem grünen und blauen Planeten entwickelt, der seine Bahn durch ein unermeßliches Universum zieht. Die menschliche Rasse verändert sich. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt beschleunigt sich dieser Wandel und ist voller Spannung, voller Be­drohung und Verheißung. So fühlt es sich an, wenn die Strömungen zukünftiger Ereignisse in Bewegung geraten und uns ungestüm in die Zukunft vorantreiben.

Wir müssen unseren Weg durch diese Zeit der großen Veränderungen gehen in der Erwartung, daß es gut ausgeht und mit der festen Absicht, es gut werden zu lassen. Wir müssen unsere Zukunft so gestal­ten, wie wir sie uns vorstellen. Dafür ist die menschliche Freiheit da. Und im Laufe der Entwicklung entdecken wir vielleicht, daß der Mythos vom Altern durch einen anderen, angemesseneren Mythos ersetzt worden ist. Wenn es wahr ist, daß wir alle insgeheim nach Mythen leben, erkennen wir vielleicht, daß aus der Asche des alten ein neuer Mythos vom Altern aufsteigt: daß das ein unaufhörlicher Prozeß des Wachstums und der Entwicklung ist.

 

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Dazu passend haben wir – just zum rechten Zeitpunkt – noch folgendes gefunden:

 

Ein überragend wichtiges Moment kommt unserer persönlichen, geistigen Einstellung auf Heilung zu, denn unsere Zellen werden weniger über ihre genetische Vorbestimmung gesteuert, wie wir bis dato glaubten, sondern vielmehr über unser Gehirn. Der amerikanische Wissenschaftler Bruce Lipton 3 hat nachgewiesen, daß jede Körperzelle ,,ein kleines Zellgehirn“ besitzt, das wesentlich über unser Gehirn und damit unser Denken beeinflußt wird.

Steht uns ein Wissen zur Verfügung, wie wir gesund bleiben können, und haben wir damit in der Ver­gangenheit auch noch positive Erfahrungen gemacht, teilen und erneuern sich die Zellen permanent un­ter diesem geistigen lmpuls, und ganze Organe können sich vollkommen regenerieren.

Wichtig ist, sich in diesem Zeitraum von Ansichten und Medienberichten fernzuhalten, die dieses Wissen nicht haben und unsere Selbstheilungsmöglichkeiten durch permanente Bedenken und gut ge­meinte Ratschläge untergraben und letztlich verhindern – schreibt Dr. med. Andreas Thum in „Ärztli­cher Kurskompaß in stürmischer Zeit“.

 

 

1 Verkümmerung

2 ein Forschungsgebiet, das sich mit der Wechselwirkung der Psyche, des Nervensystems und des Immunsystems beschäftigt

3 ,,lntelligente Zellen“, Koha-Verlag